Donnerstag, 3. Dezember 2015

Bitte einmal kneifen

So schnell kann es gehen.

Beendete ich gestern meinen Eintrag mit der ersten (von bisher zwei, die zweite kam noch spät nachts) Antworten auf meine E-Mail, in der ich händeringend um Verbreitung meiner Umfrage bat, kann ich heute berichten, dass die Zahl meiner Teilnehmerinnen sich innerhalb von nur sechs Stunden um sagenhafte 50% vergrößert hat!

Das habe ich vor allem Sarah von mutterseelenalleinerziehend.de zu verdanken. Nachdem sie auf ihrer Facebook-Seite meine Umfrage teilte, klingelte es fast minütlich, manchmal sogar mehrmals die Minute, in meinem Postfach.

Ein Blick auf die Statistik: In kürzester Zeit sprang die Anzeige um 20 Teilnehmerinnen, es wurden mehr und mehr und irgendwann dachte ich mir, an diesem Tag würde ich die nächste 100er-Hürde schaffen.

Pustekuchen. Es wurden zwei Hunderter-Hürden.

Und der Zähler steht noch nicht still. Seit ich gestern - viel zu spät - ins Bett ging, kamen wieder zehn Datensätze hinzu und auch in diesem Moment sitzt eine Probandin an der Beantwortung meiner vielen Fragen.

Ich hab mich ein paarmal gefragt, ob ich träume. :-)

Viele Teilnehmerinnen lassen mir mit der E-Mail, die sie mir wegen des Gewinnspiels und/oder der Ergebnisse schreiben, ein paar Zeilen zukommen, über die ich mich sehr freue. Alle sind so nett und so ermutigend!

Überwiegend erhalte ich viel Lob und auch Dank - aber auch kritische Stimmen gehören dazu, die mich daran erinnern, wie vielfältig Menschen und ihre Situationen sind: Die stets freundliche und konstruktive Kritik bezieht sich zumeist auf Faktoren, die eine besondere, persönliche Situation kennzeichnen und die dann natürlich in meiner Befragung vermisst werden.

Tatsächlich lassen solche Befragungen wenig Spielraum für Individualität - das ist der große Nachteil von Statistik. Wenn es am Ende um die nackten Zahlen geht, geht die wunderbare Einzigartigkeit jeder Persönlichkeit über Bord und die vielfältigen Herausforderungen der Schicksale und Lebenssituationen können kaum gewürdigt werden.

Die Erklärung hierfür klingt schon fast bedrückend nüchtern, aber gleichzeitig macht sie psychologische Forschung erst möglich.

In solchen quantitativen Arbeiten geht es um die Masse. Um den Durschschnitt, den Standard. Das Wort "Normalität" bekommt für Statistiker eine völlig neue Bedeutung. Individuen werden in ihren Merkmalen unter einer Verteilungskurve verortet, die den Bereich abbildet, in dem man 64,2% der interessierenden Population - je nach Fragestellung - als "normalen", nicht größer abweichenden Bereich, vorstellt.

Die Grafik hier (Quelle: http://entwicklungsdiagnostik.de) veranschaulicht das, was einen Statistiker ab Tag eins für den Rest seines Lebens verfolgt:


Unter diesem "Hügel" zwischen -1 und +1 bzw. "-SD" und "SD" findet sich das, was in einer Gruppe als "Normalität" gelten kann - dabei bedeutet "normal" aber nichts anderes als "durchschnittlich".

Wenn man das weiß, kann man sich in etwa vorstellen, welchen Platz Individualität in der Forschung hat. :-/

Diese Normalverteilungskurve gilt für unzählige Merkmale, aber alle kann man natürlich in einer einzigen Arbeit nicht mit einbeziehen.

Merkmale, die relativ (!) selten vorkommen, haben sicherlich einen Einfluss auf das, was man "misst" (z. B. hat eine schwere chronische Erkrankung in der Kernfamilie sicherlich eine Auswirkung auf die Belastung einer Mutter und wird sich in den Angaben, die sie macht, auch zeigen), aber am Ende wird alles in Zahlen übersetzt und besonders belastete Fälle sind dann als Extremwerte oder "Ausreißer" in den Daten zu erkennen.

Dann weiß man zwar noch nicht, warum die Person überdurchschnittlich belastet ist - aber nachdem überdurchschnittlich belastete Personen auch überall zu finden sind (also nicht nur bei alleinerziehenden Müttern, sondern auch bei Vätern, Rettungssanitätern, Piloten, Krankenpflegern, Bauarbeitern, Schichtarbeitern... etc.) spielt das für die Forschungsfrage erst einmal keine Rolle, wenn es keine direkten Zusammenhänge mit der Gruppe gibt, die man untersucht (Alleinerziehende und chronische Krankheit zum Beispiel).

Natürlich könnte man aber ebenso gut Mütter in besonderen Belastungssituationen oder speziell Mütter mit chronisch erkrankten Kindern untereinander vergleichen - je nach dem, was man untersucht - bleiben wir bei Belastung - würde auch hier die Verteilungskurve darstellen, dass der Großteil innerhalb dieser Gruppe mittelmäßig belastet ist, einige über- oder unterdurschschnittlich und einige extrem - weswegen, das wüsste man nicht.

Und so darf man sich Forschung als eine endlose Aneinanderreihung von Merkmalen unter Normalverteilungskurven vorstellen. Sie ermöglicht es uns, zu vergleichen, ob z. B. Mütter mit pflegebedürftigen Eltern oder Mütter von chronisch erkrankten Kindern sich bezüglich ihres Wohlbefindens, ihrer Belastung oder anderen Merkmalen voneinander unterscheiden oder Fragen zu beantworten, wie stark der Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Erkrankung beim Kind und Stresssymptomen bei der Mutter ist.

Dabei kann (und sollte!) man möglichst viele relevante Merkmale mit einbeziehen - alle gehen jedoch nicht. Man beschränkt sich auf die, zu denen man eine umfassende, abgrenzbare Theorie hat - in einer einzigen Arbeit muss das auch überschaubar sein.

Für meine Fragestellung untersuche ich ganz bestimmte, ausgewählte Faktoren, über die ich mir im Vorfeld viele Gedanken gemacht und viel gelesen habe. Und welche das sind, werde ich natürlich noch darlegen, wenn das Ganze unter Dach und Fach ist.

Nun steht unsere Individualität nach diesem Text etwas traurig und verloren da. Das ist sie aber nicht.

In der Forschung geht es darum, so gut wie möglich herauszufinden, was für die meisten Menschen zutrifft ("passt"). Und das ist ein Fass ohne Boden. Praktiker - Therapeuten zum Beispiel - sind ständig damit beschäftigt, sich auf den aktuellen Forschungsstand zu bringen, der entweder einen alten widerlegt, aber meist sind es neue Facetten und Details, die dazukommen.

So nüchtern Statistik nun in diesem Posting "weggekommen" ist, muss man, um sie wirklich zu verstehen und interpretieren zu können, sehr genau hinschauen und jeden einzelnen Wert im Kontext sehen, die Methode durchdenken und kritisch hinterfragen.

Am Ende hat man neues Wissen hinzugewonnen, das man in dem Moment, in dem man es mit einer lebenden, echten Person zu tun hat, mit einbezieht, wenn es darum geht, sie zu therapieren. Im Falle einer Mutter, die Hilfe braucht, weil sie mit ihren Kräften am Ende ist, würde der Therapeut nach der Info "Ich habe ein Kind" nicht aufhören, sie nach ihren Lebensumständen zu befragen. Wenn er dann noch hört "Das Kind ist chronisch krank." wird bei ihm sein gesamtes Hintergrundwissen und sein Erfahrungsschatz aktiviert und er wird abrufen, mit welchen zusätzlichen psychischen Belastungen Mütter chronisch kranker Kinder zu kämpfen haben. Und das würde bei jeder Einzelheit passieren, die er über die Person erfährt, bis er ein möglichst klares Bild dieser Person hat - vollständig wird es dennoch nie sein.

Und so bekommt auch die nüchterne Statistik ihre Berechtigung, denn sie ist das Handwerkszeug, aus dem die wesentlichen Informationen gezogen werden. Und auch diese werden nie vollständig sein.

Eine weitere Motivation für mich, noch möglichst viele Fragen zu beantworten! :-)

Und zum Schluss noch ein beliebter Statistiker-Witz:


(Quelle: http://mathcoachblog.com/)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen